»Palliative Care« bedeutet auch »Spiritual Care«. Immer wieder hört man von diesem neuen Fachgebiet. Was ist Spiritual Care?
Klaus Baumann (KB): Spiritual Care ist ganz nah an der wörtlichen Übersetzung die sorgsame Aufmerksamkeit für die spirituellen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen und auch des Personals selbst.
Friederike Rüter (FR): In der Tat wurde Spiritual Care zuerst in den Zusammenhängen von Palliative Care und Hospizarbeit profiliert. In Spiritual Care arbeiten verschiedene Berufe im Gesundheitswesen zusammen: Ärztinnen und Physiotherapeuten, Pflege und Psychologischer Dienst, Verwaltung und Seelsorge. Spiritual Care ist ein interdisziplinäres Geschehen und umfasst auch die dazu notwendige Organisation.
Sind Spiritual Care und Seelsorge aus Ihrer Sicht das Gleiche?
KB: Das kommt natürlich sehr auf die Definition der Begriffe an. Die sorgsame Aufmerksamkeit auch für die spirituellen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten ist meines Erachtens ein häufig übersehener Teil der Aufgaben der Gesundheitsberufe, während sie wie selbstverständlich zum Kern von qualifizierter Seelsorge gehört.
FR: In der Charta der Weltreligionen zum Recht auf Palliative Versorgung von 2015/2017 wird festgehalten: Das Recht auf Spiritual Care ist ein Recht auf Begleitung durch die eigene Religionsgemeinschaft. Insofern ist Spiritual Care zunächst ein organisationaler Begriff aus dem Gesundheitswesen, und Seelsorge beschreibt im engeren Sinn die schon durch eine reflektierte Haltung und christliche Motivation grundierte Begegnung, Begleitung und Beratung von und mit Menschen.
Dann sind also alle für Spiritual Care zuständig?
KB: Ja, und zwar im doppelten und jeweils nicht gleichen Sinne. In einem ersten Sinn kann man Patientinnen und ihren Angehörigen nicht wirklich gerecht werden, wenn man ihre spirituellen Bedürfnisse und Nöte nicht beachtet und sorgsam aufnimmt. Wie sie aufgenommen werden, sei es von den Gesundheitsberufen, sei es von den Seelsorgenden, kann sich unterscheiden. Z. B. sollte medizinisches Personal sie sensibel und positiv aufnehmen, während längere Gespräche und Rituale in der Regel Sache der Seelsorgenden sein werden. In einem zweiten Sinn gehört es im christlichen Kontext zur Berufung aller Getauften, sich um die seelischen Nöte und Hoffnungen ihrer »Nächsten« zu »kümmern« wie für sich selbst. Auch dies kann individuell sehr verschieden aussehen.
FR: Und dies würde jenseits der Zugehörigkeit zur selben Konfession oder Religion gelten.
KB: Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang auch die vielen, die sich freiwillig engagieren und die ihrerseits beitragen können zu dem, was das Palliative Care Forum der Erzdiözese Freiburg eine »palliative Kultur« nennt. Damit ist eine allgemeine breite gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Sensibilität für die Bedürfnisse von Sterbenden gemeint.
Inwieweit bedarf es einer Qualifikation, um Spiritual Care auszuüben?
FR: Wenn es gelingt, Spiritual Care im Gesundheitswesen selbstverständlich zu machen, braucht es für eine ganzheitliche Behandlung, Pflege und Versorgung der Patientinnen und Patienten eine Qualifizierung. Nur so können die Menschen in Gesundheits- und Seelsorgeberufen und in der ehrenamtlichen Begleitung gut auf die spirituellen Bedürfnisse der Betroffenen eingehen.
KB: Bestimmte Ausbildungselemente sind im Grunde unabdingbar. Spiritual Care und Seelsorge brauchen Einübung von Wissen, Können und Haltungen, um tatsächlich zur »Kunst« zu werden, die Patienten und ihren Angehörigen mehr gerecht wird. Dafür müssen alle Spiritual Care Giver – ehrenamtliche wie beruflich Bestellte – selbst kontinuierlich und zuerst Sorge für ihre eigenen spirituellen, seelischen Bedürfnisse tragen. Das gilt übrigens auch für die Priester und Pfarrerinnen – die Menschen merken ihnen das an.
Welche konkreten Aufgaben haben die Gesundheitsberufe in Spiritual Care – im palliativen Kontext oder auch darüber hinaus?
KB: Ich würde gerne unterstreichen, dass Spiritual Care im ganzen Gesundheitswesen gelebt werden sollte. Das Erste dafür sind meines Erachtens Grundhaltungen und deren Einübung, die wirkliche Resonanz der geistlichen Bedürfnisse und Nöte in ihnen ermöglichen, ohne von ihnen überwältigt zu werden oder sie von sich fernzuhalten. Ich nenne sie die drei »E«s: Echtheit, Empathie und Ehrfurcht, die weitgehend humanistischer Psychotherapie entsprechen, jedoch ausdrücklich mit der Perspektive der Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Anderen und der tiefen Achtung dieser Andersheit. Damit sind auch eher operative Kompetenzen verbunden, insbesondere die Kompetenz, für die vielerlei indirekten und nonverbalen Äußerungen spiritueller Bedürfnisse von Patientinnen empfänglich und hörfähig zu sein; dann die kommunikative Kompetenz, auf diese Bedürfnisse so befreiend einzugehen, dass Patienten wie Angehörige ermutigt sind, ihren spirituellen Bedürfnissen Raum zu geben und gegebenenfalls mit dem medizinischen Personal zu klären, was »dran« ist, z. B. ein Gespräch zu führen oder einen Kontakt mit einer Seelsorgeperson herzustellen. Eine einfache Frage schon in der Anamnese kann hierfür ein ermutigender Türöffner sein.
Bringen kirchliche Seelsorgerinnen und Seelsorger gegenüber anderen »Spiritual Care Givern« besondere Kompetenzen mit? Oder anders gefragt: Macht es einen Unterschied, ob ich als Patientin von einem nichtkirchlichen »Spiritual Care Giver« oder einem kirchlichen Seelsorger begleitet werde?
FR: Seelsorgende im Gesundheitswesen, aus den Kirchen entsandte Theologen, Priester und Pastoralreferentinnen, Diakone und Pfarrerinnen, bringen als »Fachseelsorger« und Expertinnen für spirituelle Fragen der Patienten eine grundlegende theologische und pastoralpsychologische Qualifikation mit. Sie sind mit der Bibel vertraut, mit Theologie und Ethik, mit Glaubensfragen und Glaubenszweifeln.
KB: Auch bei dieser Frage kommt es meines Erachtens wieder auf viele Aspekte an, die im Spiel sein können. Kirchliche Seelsorge muss jedenfalls aus eigener theologischer Überzeugung heraus fähig und willens sein, authentisch für Menschen in ihrer schweren Situation da zu sein, um dieser Menschen selbst willen; bei ihnen sein, mit ihnen aushalten und ihnen Gehör schenken. Jede Form von religiöser Manipulation oder Ausnützen der Bedürftigkeit oder Schwäche ist ihr aus ihrem Selbstverständnis heraus wie aus ethischen Gründen überhaupt untersagt.
FR: Und das haben Seelsorgende gelernt. Es gehört zu ihren berufsethischen Standards. Sie können zwischen dem Eigenen und dem Fremden unterscheiden.
Wenn eine Mitarbeiterin der Klinik, beispielsweise eine Physiotherapeutin, wahrnimmt, dass eine sterbenskranke Patientin den Wunsch haben könnte, z. B. in einem Gebet oder durch eine persönliche Segnung mit ihrer Familie Gemeinschaft und Stärkung zu erleben, wird sie einen christlichen Seelsorger zu Rate ziehen und wenn möglich dazu holen.
Was ist das Besondere an kirchlicher Seelsorge in einem Hospiz oder in einem Krankenhaus?
FR: Seelsorgende können in kritischen Situationen gefragt werden. Sie können auf ethisch komplexe Behandlungsentscheidungen reagieren, schwer Sagbares in Worte fassen, Schweigen aushalten, an der Grenze von Leben und Tod Hoffnung und Klage zum Ausdruck verhelfen: durch Gebete und stille Präsenz. Durch das Gestalten von Räumen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Klinikkapelle oder Raum der Stille, Gesprächszimmer oder Stationsflur. Und vieles davon können und tun Mitarbeitende im Gesundheitswesen ebenso.
KB: Das Besondere ist wegen vieler möglicher Gemeinsamkeiten häufig nicht auf den ersten Blick erkennbar. Kirchliche Seelsorge durch freiwillig Engagierte und beruflich Bestellte will in einem »Spirit« geschehen, der nicht exklusiv, sondern für alle offen ist. Sie will im Geist Jesu geschehen. Mit den schon skizzierten Haltungen ist dieser »Spirit« notwendig mit dem auf Gott hin und von Gott her offenen Horizont verbunden; mit der spirituellen Überzeugung, dass Gott als Freund des Lebens wie mit mir selbst auch mit dieser Patientin schon in Beziehung ist und eine Geschichte hat, die die Patientin ganz individuell, mehr oder weniger bewusst, erlebt hat oder sieht. Und je nach dem – ganz von den Bedürfnissen und Wünschen des Patienten her – können geprägte Formen von religiöser Spiritualität, von Gebet und Sakramenten, also Eucharistie/Abendmahl, Taufe, katholisch auch Beichte, Krankensalbung etc. ausdrücklich ins Spiel kommen und dann entsprechend Priester oder ordinierte Geistliche gerufen werden.
Im Sommer 2019 wurde gerichtlich entschieden, dass Spiritual Care über die gesetzlichen Krankenkassen abrechenbar ist. Was halten Sie davon?
KB: Das halte ich für eine brisante systemische Frage. Sie wird fast automatisch die Akzeptanz von Spiritual Care im professionellen Team erhöhen, wo sie als abrechnungsfähige Leistung refinanziert wird. Umso wichtiger wird es sein, dass sie kompetent im skizzierten Spirit bzw. aus den Grundhaltungen heraus geschieht, die wir andeuteten.
FR: Wenn Spiritual Care als achtsame, zum Teil zeitintensive und ethisch fundierte und reflektierte Achtsamkeit und Sorge um die spirituellen Bedürfnisse chronisch oder schwer kranker, sterbender Menschen verstanden wird, ist es besonders wichtig, dass sie in ihrem Kern nicht ökonomischen Kriterien des Gesundheitswesens unterworfen wird. Die Finanzierungsnotwendigkeit von Spiritual Care zielt genau in die andere Richtung: einen zur Institution gehörigen Freiraum zu etablieren, der nicht der Verrechnungslogik folgt, sondern der unverrechenbaren Würde des Menschen.
Sollte kirchliche Seelsorge in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen grundsätzlich von den Krankenkassen bezahlt werden?
KB: Auch da sind systemisch mehrere Fragen im Spiel, angefangen vom eigenen Selbstverständnis kirchlicher Seelsorge und ihrer Sendung für Menschen in Not, aber auch rechtliche und organisationale Fragen, etwa der Teams in Krankenhaus und Pflege. Grundsätzlich sollte kirchliche Seelsorge jedoch nicht eine Sache der Krankenkassen, sondern ein nicht vergeldlichter Dienst der Kirchen sein; in der Palliativversorgung im multidisziplinären verlässlichen Team kann das – da wäre ich mit dem Gerichtsurteil einig – im Verständnis von Spiritual Care im engeren Sinn, wie wir es hier besprechen, anders aussehen.
FR: Das sehe ich ähnlich und doch etwas anders: Ich meine, Seelsorge als Hilfe zum Leben – und da gehören ja Kranksein, Gesundwerden, Sterben dazu – ist eine wesentliche Aufgabe kirchlichen Handelns. Insofern tragen die Kirchen hier selbst Verantwortung: Personalverantwortung und Qualifizierung sollte aus meiner Sicht bei den Kirchen liegen. Eine grundlegende Beteiligung an der Finanzierung der Seelsorge durch das Gesundheitswesen halte ich aber dennoch für ein sinnvolles Ziel.
Das Recht auf angemessene Krankenhausversorgung für Menschen mit akuten und chronischen Erkrankungen wird in Deutschland in der Sozialgesetzgebung beschrieben. In SGB V, § 39 wird dieses Recht benannt. Es impliziert – wenn es eine kompetente, ganzheitliche Versorgung im Sinne des Patientenwohls sein soll – das Recht auf Spiritual Care, auf »geistliche Versorgung«, auf Seel-Sorge.
Wie es der Name schon verrät, kommt Spiritual Care aus dem englischsprachigen Raum. Es wird international diskutiert. Welche Rolle spielen hierbei die Kirchen und Religionsgemeinschaften?
FR: Der Begriff stammt aus dem Gesundheitsdiskurs. Auch wenn die Organisation einer gelingenden Spiritual Care noch längst nicht überall im Gesundheitswesen angekommen ist. Mit ihrer Expertise für die umfassende Sorge für Menschen können Kirchen und Religionsgemeinschaften den Diskurs bereichern und vorantreiben. »Time to move forward. Creating a New Model of Spiritual Care«, so formuliert es das Health Care Chaplaincy Network (HCCN) 2016. Gemeinsam vorangehen, das heißt für mich: als Krankenhausseelsorge interkonfessionell und interreligiös, zusammen mit den unterschiedlichen Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Ziel von Spiritual Care im Gesundheitswesen ist es zu ermöglichen, dass auch kranke und sterbende Menschen an einem als sinnvoll erfahrenen Leben teilnehmen können. Da gehören die körperlichen, sozialen, psychischen und spirituellen Aspekte des Lebens zusammen.
KB: Spiritual Care ist nicht konfessions- oder religionsgebunden und hat darum international eine sehr rege interdisziplinäre und sogar transreligiöse Entwicklung genommen. Die christlichen Kirchen mit ihrer Sorge um die Kranken und Leidenden wie auch ihrem reichen seelsorglichen Erfahrungswissen sind Schrittmacher der Entwicklung gewesen und können dies – so ist mein Wunsch – auch weiterhin sein, ganz im Sinne ihrer Sendung für die Menschen.
Das Interview führten Dr. Ilkamarina Kuhr und Dr. Anne-Kathrin Pappert, Geschäftsführerinnen der Woche für das Leben.