Bei der Demenz handelt es sich nach gegenwärtigem Kenntnisstand um eine nicht heilbare fortschreitende Erkrankung. Diese nimmt unter den auf das Alter bezogenen Sorgen der Menschen in allen Altersgruppen einen der vordersten Rangplätze ein. Vor dem Hintergrund eines Menschenbildes, das Würde und Wert primär an der geistigen Leistungsfähigkeit festmacht, erscheint die Demenz geradezu als das Gegenteil gelingenden Alters. Nachfolgend soll ein differenziertes Bild der inneren Situation von Menschen mit Demenz wie auch ihrer Beziehungen zum sozialen Nahumfeld entwickelt werden, das zeigt, dass auch im Falle der Demenz positive Erfahrungen und Erlebnisse möglich sind – unter der Voraussetzung, dass das soziale Nahumfeld die Fähigkeit zur mitfühlenden, konzentrierten, von Respekt vor der Würde des Anderen bestimmten Interaktion zeigt und dass eine fachlich und ethisch anspruchsvolle Versorgung und Begleitung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen gewährleistet ist.
Es gibt verschiedene Formen von Demenz
Demenz ist der Oberbegriff für ein breites Spektrum von Erkrankungen mit unterschiedlichen Entstehungsbedingungen und Symptomen. Die gröbste Differenzierung zwischen den Erkrankungen bezieht sich auf die Schädigung der Nervenzellen (neurodegenerative Demenz) gegenüber der Schädigung der Gefäße (vaskuläre Demenz) als primärer Krankheitsursache. Dabei machen die neurogenerativen Demenzen ca. 65 Prozent aller Demenzen aus, die vaskulären Demenzen ca. 20 Prozent, bei ca. 15 Prozent liegen Mischformen vor. Bei den vaskulären Demenzen gibt es vielfältige Möglichkeiten der Prävention: Durch die lebensstilbedingte Reduktion des Arteriosklerose-Risikos wird die Auftretenswahrscheinlichkeit der vaskulären Demenz deutlich verringert. Bei den neurodegenerativen Demenzen (deren häufigste Form die Alzheimer-Demenz darstellt) ist das Präventionspotenzial erst in Ansätzen nachgewiesen. Doch geben Forschungsbefunde Anlass zur Hoffnung, dass die Anzahl der Neuerkrankungen auch hier durch eine Verminderung von Risikofaktoren – insbesondere Bluthochdruck und Adipositas (Fettleibigkeit) im mittleren Lebensalter, Diabetes mellitus, Depression, körperliche Inaktivität, Rauchen und niedrige Bildung – erheblich reduziert werden könnte. Es wird vorhergesagt, dass sich die Anzahl der demenzkranken Menschen bis zum Jahre 2050 wegen der fortschreitenden Alterung der Bevölkerung mehr als verdoppeln, vielleicht sogar verdreifachen wird. Doch ist dies keinesfalls sicher. In den letzten Jahren wurden Arbeiten veröffentlicht, die darauf hindeuten, dass in den kommenden Generationen alter Menschen der Anteil demenzkranker Menschen erkennbar zurückgeht. Dies gilt nicht nur für die vaskulären, sondern auch für die neurodegenerativen Demenzen – für letztere allerdings nicht in dem Ausmaß wie für erstere. Kurzum: Wir sind also der künftigen Entwicklung der Krankheitshäufigkeit nicht einfach schicksalshaft ausgeliefert.
Der Krankheitsverlauf ist sehr unterschiedlich und lässt sich beeinflussen
Generell ist festzustellen, dass durch den Aufbau und die Nutzung von geistigen, emotionalen, sozialkommunikativen, alltagspraktischen und körperlichen Ressourcen im Lebenslauf dazu beigetragen wird, dass bei einer bestehenden Demenz die Krankheitssymptome (zum Teil deutlich) später eintreten, als dies ohne einen derartigen Ressourcenaufbau der Fall wäre. Zudem kann eine rechtzeitig begonnene medikamentöse Behandlung, verbunden mit einem geistigen und körperlichen Training wie auch mit dem Eingebunden-Sein in emotional und geistig lebendige soziale Netzwerke, in den früheren Phasen der Demenz den Symptomverlauf günstig beeinflussen. Im weiteren Krankheitsprozess bilden sich die meisten Fähigkeiten und Fertigkeiten zurück, doch dies in unterschiedlicher Geschwindigkeit, in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher Tiefe. So nehmen gefühlsbezogene und empfindungsbezogene Qualitäten deutlich später ab als geistige Qualitäten; zudem weist deren Rückgang nicht das Ausmaß sowie die Tiefe des Verlusts auf, wie dies bei den kognitiven Qualitäten der Fall ist.
Nahumwelt und Biografie prägen Menschen mit Demenz bis zuletzt
Menschen mit Demenz können auch in späten Phasen ihrer Erkrankung auf ihre soziale Umwelt reagieren. Bei einer feinfühligen Ansprache sind sie auch in der Lage, die emotionale Gestimmtheit anderer Menschen differenziert zu erfassen. Sie können sich an Personen wie auch an Dingen und Prozessen in ihrer Umwelt erfreuen. Und sie können sich in einem späten Krankheitsstadium an einzelne Ereignisse und Erlebnisse in ihrer Biografie erinnern – vor allem an jene, die für sie hervorgehobene Bedeutung besessen haben. Einzelne aktuelle Situationen tragen Erinnerungszeichen, auf die eine demenzkranke Person mit emotionalen und verhaltensbezogenen Reaktionen antwortet, die eine gewisse biografische Kontinuität aufweisen, also mit früheren Reaktionen in Teilen verwandt sind. Menschen mit Demenz dürfen nicht wie Kinder angesprochen werden. Auch wenn sie in den späteren Phasen der Krankheit einen Grad an Verletzlichkeit aufweisen, der jenem von Kindern ähneln mag, so haben sie doch eine Biografie erlebt und gestaltet, die fortlebt, die aktuelles Erleben und Verhalten in Teilen »bahnt«.
In den späten Phasen der Demenz ist eine einfühlsame Kommunikation für die emotionale Befindlichkeit des Demenzkranken von hervorgehobener Bedeutung; sie bildet eine zentrale Einflussgröße des Wohlbefindens. Menschen mit Demenz spüren, in welcher Haltung ihnen andere Menschen begegnen. Dies hat auch damit zu tun, dass Emotionen und Affekte in ihrer Differenziertheit sehr lange bestehen bleiben.
Die Erhaltung von Teilhabe ist ein realistisches und notwendiges Ziel der Versorgung und Begleitung von Menschen mit Demenz. Die Teilhabe, also die aktive Mitgestaltung von Beziehungen (in emotional bedeutsamen Netzwerken) und des öffentlichen Raumes (z. B. in Gruppenaktivitäten) ist für die möglichst lange Erhaltung von Fähigkeiten und Fertigkeiten wie auch von Interessen sehr wichtig. In einer beschützenden, hochgradig reagiblen Umwelt, die auf die besondere Verletzlichkeit demenzkranker Menschen Rücksicht nimmt, können auch diese – selbst im Falle einer weit fortgeschrittenen Erkrankung – Momente des Wohlbefindens und des Glücks erleben. Angehörige berichten, dass sie auch bei weit fortgeschrittener Demenz der Betroffenen bisweilen Situationen erleben, in denen sie den Eindruck gewinnen, das Wesen der demenzkranken Person wiederzuerkennen, ja, dass es am Lebensende des Patienten Situationen gibt, in denen dieser eine geistige Qualität im tieferen Sinne zeigt: auf einmal erscheint der Blick sehr klar, auf einmal wird eine Aussage getroffen, die dem Gehalt der Situation nicht nur annähernd, sondern sogar völlig entspricht. Derartige Erlebnisse und Erfahrungen dürfen für den Versuch, zu einem umfassenderen Verständnis der inneren Situation eines Menschen mit Demenz zu gelangen, nicht unterschätzt werden. Sie zeigen uns nicht nur innere Qualitäten, die bei einer oberflächlichen Betrachtung und Ansprache unentdeckt bleiben, sondern sie können auch der Versorgung und Begleitung der Person mit Demenz als ein weiterer wichtiger Kompass dienen. Was diese Aspekte zeigen: die Personalität dürfen wir auch dem demenzkranken Menschen am Lebensende keinesfalls absprechen. Die Person ist bei Weitem nicht mehr so klar und prägnant erkennbar wie dies in frühen Phasen der Demenz oder vor Eintritt der Erkrankung der Fall war. Aber bei konzentrierter, ruhiger, ganz auf den individuellen Menschen abgestimmter Interaktion werden wir auch etwas von der Person erkennen und spüren. Und wenn dies gelingt, dann kann auch die Versorgung und Begleitung des bzw. der Demenzkranken zu einer persönlich bedeutsamen Erfahrung werden.
Wie nehmen sich Menschen mit Demenz selbst wahr?
Menschen mit Demenz empfinden vielfach deutlich intensiver Schmerzen als Menschen ohne Demenz – was auch damit zu tun hat, dass sie die Schmerzquelle nicht lokalisieren und sich kognitiv und emotional nicht gegen den Schmerz schützen können. Sie nehmen sich zudem als in irgendeiner Weise »verändert « wahr, sie haben Angst, »aus der Welt zu fallen«. Der von nicht wenigen demenzkranken Menschen immer wieder ausgebrachte Hilferuf (»Hilfe!«) gründet auf Ängsten vor Verlassenheit und Schutzlosigkeit. Daneben erleben sie aber auch Freude, teilweise sogar sehr intensiv. Ängste und Freude können übrigens in rascher Folge abwechseln. Maßnahmen, die einen Freiheitsentzug bedeuten (vor allem körperliche Fixierungen), werden von Demenzkranken tatsächlich als Beschränkung oder Entzug der Freiheit erlebt. Wichtig ist, dass alles dafür getan werden sollte, dass sich demenzkranke Menschen angenommen, ernst genommen, beschützt, sicher und sozial eingebunden erleben. Dies geschieht z. B. durch eine feinfühlige psychosoziale Begleitung. Wenn die Betroffenen in einer für sie optimalen Art und Weise angeregt werden und ihr Alltag ein ausreichendes Maß an Struktur aufweist, dann wird auch eine innere Lage gefördert, die in weiten Phasen relativ frei von Affektspitzen, Agitation, reicher Symptombildung (Psychopathologie) und stark ausgeprägter Unruhe ist. In einer entsprechend gestalteten, agierenden und reagierenden Umwelt lässt sich beispielsweise auch die Gabe von Neuroleptika erkennbar verringern, was sehr begrüßenswert ist.
Die Würde bleibt – und dennoch muss der Wert des Lebens stets aufs Neue hervorgebracht werden
Menschen mit Demenz büßen auch mit zunehmender Krankheitsschwere nicht ihre Würde ein. Sofern die allgemeine Würde angesprochen ist, kann und darf nicht von einem Verlust der Würde bei zunehmender Krankheitsschwere gesprochen werden: denn unabhängig von dem Ausprägungsgrad der verschiedenen (körperlichen, emotionalen, kognitiven, sozialkommunikativen und alltagspraktischen) Funktionen besitzt jeder Mensch Würde. Diese ist weder verlier- noch verhandelbar, sie kann und darf ihm nicht abgesprochen werden. Gilt diese Aussage auch für die spezifische Würde? Diese Frage ist differenzierter zu beantworten. Mit spezifischer Würde sind jene Merkmale und Eigenschaften gemeint, die für die persönliche Identität von zentraler Bedeutung sind. Mit dem Verlust von Fähigkeiten und Fertigkeiten können diese – die persönliche Identität und damit die subjektiv erlebte Würde konstituierenden – Merkmale betroffen sein, sodass der demenzkranke Mensch sich selbst mehr und mehr Würde abspricht. Kann man denn etwas dafür tun, damit diese spezifische, subjektiv erlebte Würde wiederhergestellt wird? Man sollte es immer und immer wieder versuchen. So kann man im Gespräch mit dem demenzkranken Menschen – am besten unmittelbar nach Befunderöffnung – deutlich machen, dass bei der Demenz bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten zurückgehen, andere Fähigkeiten und Fertigkeiten hingegen deutlich länger erhalten bleiben, und dass es aller Mühen wert ist, letztere möglichst lange einzusetzen und auch erstere möglichst lange zu erhalten, um auf diese Weise zum subjektiven Wohlbefinden beizutragen. Mit Blick auf die Begleitung von Menschen mit Demenz (vom Stadium früher Symptombildung an) ist hervorzuheben, dass jegliches Leben einen grundlegenden Wert besitzt und die Aufgabe des Menschen darin besteht, diesen Wert immer wieder aufs Neue hervorzubringen. Wenn es gelingt, dass sich ein Mensch auf diese Erwartung einlässt und er trotz Demenz sein Leben als etwas Kostbares begreift, dann ist eine wichtige Grundlage für die Akzeptanz des Lebens in der Grenzsituation einer weit fortgeschrittenen Demenz geschaffen. Dann geht es vor allem darum, dass wir der betreffenden Person die Möglichkeit geben, alle Personen, alle Aktivitäten, alle sensorischen Eindrücke, alle Kontexte zu nennen, in denen ihr das Leben als »stimmig« erscheint – und die ihr vermutlich auch in den Stadien schwerer Symptombildungen guttun. Wenn wir in diesen Stadien, dabei auch am Lebensende, der Person unsere Solidarität nicht entziehen, sondern sie in der Haltung der Solidarität begleiten, dann ist es durchaus möglich, dass diese Person bis an das Lebensende nonverbal ausdrückt: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.«
Gegen den Trend einer Erfolgs- und Optimierungskultur: Demenz als gesellschaftliche Herausforderung
Inwieweit erkennt eine Gesellschaft ihre besondere Verantwortung für eine fachlich und ethisch anspruchsvolle Behandlung, Betreuung und Begleitung ihrer schwächsten Glieder? Inwieweit finden diese in einer Gesellschaft in gleicher Weise Gehör wie deren starke und stärkste Glieder? Inwieweit lässt sich die Kultur in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Rede vom Menschen auch von der Situation jener Menschen beeinflussen und leiten, die in einer gesundheitlichen Grenzsituation stehen und – vor allem aufgrund ihrer kognitiven Einbußen – vielleicht dem in einer Kultur bestehenden Ideal des erfolgreichen Alterns nicht entsprechen? Sieht eine Gesellschaft und Kultur in der Existenz von Menschen, bei denen eine Demenz besteht, vielleicht auch eine Chance, zu einem Gegenentwurf zum »Immer schneller«, »Immer besser«, »Immer weiter« zu gelangen?
Als »Sorgende Gemeinschaften« einander tragen
Die gesellschaftliche Verantwortung verwirklicht sich auch und vor allem in sorgenden Gemeinschaften, die sich unterstützend und begleitend um eine Familie gruppieren, in der ein Mensch mit einer Demenz lebt. Sorgende Gemeinschaften bilden sich aus Angehörigen, Freundeskreisen, der Nachbarschaft, bürgerschaftlich engagierten Personen und Pflegefachpersonen. Die Tatsache, dass Mitverantwortung auch von Personen getragen wird, die nicht der Familie angehören und nicht Pflegefachpersonen sind, vermittelt der betreuenden oder pflegenden Familie das Gefühl, nicht vergessen zu sein. Abgesehen davon, dass sich in sorgenden Gemeinschaften ein Kerngedanke der Demokratie verwirklichen kann (nämlich jener der praktizierten Mitverantwortung, Subsidiarität und Solidarität), spiegelt sich in ihnen auch der christliche Gemeindegedanke wider: »Einer trage des anderen Last« (Galater 5,25–5,10).